Video: Erfahrungsbericht von Klaus Elgas: „Eltern werden“ (barrierefreie Version)
Einführung
Ist die Elternrolle etwas, das man erlernen kann? Und wenn ja, wie?
Ich würde sagen, Françoise Dolto hatte Recht mit ihrem Hinweis: „Die Elternrolle ist nicht angeboren, sondern will gelernt sein“. Wichtig ist, dass ein Paar sich bewusst für die Elternschaft entscheidet. Danach kann es sich während der ganzen Schwangerschaft, also neun Monate lang, darauf vorbereiten. In dieser Phase finden viele Gespräche zwischen den Eltern statt, und der Rucksack ist bereits prall gefüllt mit Dingen aus ihrer eigenen Erziehung, die sie aus ihrer Herkunftsfamilie mitbringen. Ich verstehe das auch als Einladung an die Eltern, ihren Gefühlen zu vertrauen, wenn es um die richtige Erziehung für ihre Kinder geht.
Was bedeutet es für Sie, ein Kind zu erziehen? Das Ergebnis einer gelungenen Erziehungsarbeit ist meiner Ansicht nach ein Erwachsener, der sich in seiner Haut wohlfühlt, glücklich ist und ein glückliches Leben führen kann. Darin sollte das Hauptziel jeder Erziehungsarbeit bestehen, und letztlich geht es darum, dass sich die Eltern überflüssig machen, sodass die Kinder eines Tages in der Lage sind, ihr Leben selbst zu meistern.
Mit welchen Problemen sind Ihrer Ansicht nach Eltern heutzutage bei der Kindererziehung konfrontiert?
Ich finde, dass Eltern heute aus ihrem Umfeld unzählige Anregungen bekommen und viele Herausforderungen in ihrem Leben zu bewältigen haben, sodass es schwierig ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Beispielsweise gibt es Hunderte von Büchern zum Thema Kindererziehung, und für Eltern ist es nicht einfach, zu erkennen, welche Informationen für sie wirklich wichtig sind.
Was versteht man unter dem Begriff „Familienlebenszyklus“? Worin bestehen seine wichtigsten Phasen?
Der Familienzyklus beginnt mit der Geburt des Kindes. Das Kind wird erwachsen, und eines Tages verlässt es seine Herkunftsfamilie, um eine Liebesbeziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Und irgendwann wird aus diesem Liebespaar ein Elternpaar, und dieses Elternpaar erzieht sein Kind, solange es erforderlich ist, bis auch dieser Mensch in der Lage ist, sein Leben eigenständig zu meistern. Dann beginnt der Zyklus von neuem, und er wiederholt sich jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird.
Die Geburt des ersten Kindes gilt als Synonym für unermessliche Freude. Kann sie die Paarbeziehung aus dem Gleichgewicht bringen?
Ich bin überzeugt, dass die Ankunft des ersten Kindes die Partnerschaft stört, das ist eine Gewissheit, doch ich bin ebenso überzeugt, dass es sich um eine positive Störung handelt, denn es findet ein tiefgreifender Wandel statt, und wenn das Paar, wie ich schon erwähnt habe, sich zuvor bewusst für die Elternschaft entschieden hat, wird diese kleine Störung als große Freude erlebt, wie Sie sagen, und diese Freude wird zur Grundlage einer guten Erziehung.
Wie sehen Sie die Rolle der Großeltern? Was hat sich im Vergleich zu früheren Generationen verändert?
Nun, die Rolle Großeltern hängt tatsächlich sehr von den Wünschen der Eltern ab. Wenn die Großeltern im Alltag des Kindes wirklich eine erziehende Rolle übernehmen, ist es sehr wichtig, dass sich Eltern und Großeltern in den Grundzügen der Erziehung einig sind, denn andernfalls gelingt es dem Kind nicht, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Wenn die Großeltern ein wenig die Hüter des Familienschatzes darstellen, wie das früher der Fall war, ist es für die Kinder sehr spannend, oft mit ihnen Zeit zu verbringen und aus diesem Schatz zu schöpfen.
Wie lautet Ihre Empfehlung an Eltern zum Thema Einbeziehung der Großeltern?
Wenn es zum Beispiel einen Großelterntag pro Woche gibt, muss wirklich klar sein, dass beide Eltern und Großeltern am selben Strang ziehen, damit die Kinder einen Anhaltspunkt haben, an dem sie sich orientieren können.
Wie baut man eine stabile und vertrauensvolle Beziehung zum eigenen Kind auf?
Die stabile und vertrauensvolle Beziehung ist in der Tat die Säule jeder Erziehungsarbeit, und der Aufbau dieser Beziehung erfordert zweifellos Zeit. Deshalb würde ich sagen, während des gesamten ersten Lebensjahres des Kindes ist es zwingend erforderlich, dass die Eltern so präsent wie möglich sind, damit das Kind die Erfahrung macht, dass seine Eltern jederzeit auf alle seine Bedürfnisse reagieren.
Welche Fallen gilt es zu vermeiden?
Die größte Falle besteht meiner Ansicht nach in der Annahme, man müsste das Kind „schreien zu lassen, damit sich seine Lunge kräftigt“, wie Mütter früher behaupteten. Doch dabei handelt es sich um einen gewaltigen Irrtum. Ein Kind schreit nach seinen Eltern, weil es ihre Nähe braucht. Auf der ganzen Welt gibt es kein Kind, das die Anwesenheit der Eltern absichtlich einfordert, weil es sie bewusst stören will, zum Beispiel während der Fernsehübertragung eines Fußballspiels. Das Kind fordert die Anwesenheit seiner Eltern ein, weil es sie wirklich braucht.
Meine Mama ließ mich schreien, weil sie das für richtig hielt, doch das stimmt überhaupt nicht. Ein Kind erlernt das Warten, weil man unmittelbar auf seine Bedürfnisse eingeht. Auf diese Weise erlernt ein Kind das Warten. Nicht aber, indem man darauf wartet, dass es sich daran gewöhnt.
Ist in der Erziehung Perfektionismus verlangt? Darf man sich als Eltern Fehler erlauben?
Eines ist sicher: Kinder wollen keine Eltern, die versuchen, perfekt zu sein. Davon abgesehen gibt es die perfekte Erziehung nicht. Wenn Kinder erleben, dass Eltern Fehler begehen, lernen sie, dass es völlig normal ist, Fehler zu begehen. Und wenn Kinder erleben, dass Eltern in der Lage sind, sich für einen Fehler zu entschuldigen, haben sie den wichtigsten Lernschritt vollzogen.
Wie lassen sich persönliche Werte und gemeinsame Beziehungswerte miteinander vereinbaren?
Die Werte in der Erziehung stellen ihre Grundlage dar. Dabei geht es wirklich um die Grundzüge, die dem Kind vermittelt werden sollen, damit es im Lauf seiner Entwicklung sein Verhalten an diese Werte anpassen kann. Ich nenne ein Beispiel: Ein sehr wichtiger Wert in meiner Familie war die Pünktlichkeit. Es war gewünscht, dass jeder pünktlich am Mittagstisch erscheint. Und da meine Eltern diesen Wert konsequent vertraten, habe ich durch dieses Detail meiner Erziehung viel gelernt. Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen Mama und Papa, und mitunter gibt es auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Werte, die dem Kind vermittelt werden sollen. Doch das Wesentliche besteht meiner Ansicht nach darin, dass sich das Kind in Bezug auf die Grundwerte der Erziehung darauf verlassen kann, dass Papa und Mama einstimmig sprechen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die gewaltfreie Erziehung. Wenn Papa sagt, ein kleiner Klaps ist erlaubt, und Mama das Gegenteil sagt, ist klar, dass das Kind das nicht verstehen kann. Das Kind braucht Eltern, die sich in den Grundwerten der Erziehung einig sind.
Wie kann man in den ersten Lebenswochen des Kindes seine Bedürfnisse erkennen?
Es ist sehr wichtig, die Bedürfnisse des Kindes entschlüsseln zu können. Nach der Geburt des Kindes lernt man im Lauf seiner ersten Lebensstunden, in diesem kleinen Geschöpf zu lesen und zu verstehen, welche Bedürfnisse es mit seiner Mimik und seiner Körperhaltung ausdrückt.
Auch Eltern haben Bedürfnisse, als Einzelpersonen und als Paar. Wie lässt sich das vereinbaren?
Das ist ein sehr schwieriges Unterfangen, weil das Kind, vor allem, wenn es noch sehr klein ist, viel Aufmerksamkeit von seinen Eltern verlangt, doch selbstverständlich haben die Eltern dieselben Bedürfnisse wie das Kind. Sie haben das Bedürfnis nach Nahrung, nach Schlaf, nach Entspannung. Es ist wichtig, dass sich Eltern ihre Zeiten der Entspannung bewahren, damit sie immer wieder auftanken können und genügend Ressourcen haben, um die Bedürfnisse ihrer Kinder erfüllen zu können.
Darf man dem Kind erlauben, alles zu tun, wozu es Lust hat? Oder sollte man in der Kindererziehung Grenzen setzen?
Grenzen in der Kindererziehung sind unverzichtbar. Ein Kind, das ohne Grenzen aufwächst, lebt im Chaos. Kinder brauchen Eltern, die Grenzen setzen, damit sie sich orientieren können und lernen können, was gut ist und was nicht gut ist. Das Kind weiß das nicht automatisch, doch seine Eltern wissen es, und es ist ihre Aufgabe, es ihrem Kind zu vermitteln.
Wie findet man die goldene Mitte zwischen einem autoritären und liberalen Erziehungsstil?
Das ist eine große Herausforderung für Eltern, denn mitunter denken sie: „Wenn ich immer nein sage, mag mich mein Kind nicht mehr.“ Doch das stimmt überhaupt nicht. Das Kind erwartet von seinen Eltern, dass sie ihm Grenzen setzen. Ganz am Anfang dienen die Grenzen natürlich dem Schutz des Kindes. Es ist klar, dass man das Baby nicht zur Steckdose krabbeln lassen kann. Es ist klar, dass man an dieser Stelle Grenzen setzen muss. Doch wenn das Kind größer wird, muss man ihm natürlich auch erklären, weshalb man etwas von ihm verlangt. Dass Eltern auf dem richtigen Weg sind, erkennt man daran, dass das Kind die Grenzen ständig austestet und herausfinden möchte, ob die Grenzen langfristig stabil bleiben. Und diesen Test müssen die Eltern aushalten. Das Kind wird eine Grenze nicht beim ersten oder zweiten Mal akzeptieren. Es ist darauf angewiesen, dass die Eltern bei der Bestimmung der Grenzen konsequent bleiben. Bei einem autoritären Erziehungsstil reagiert das Kind aus Angst. Es hat Angst vor den Konsequenzen, die es durch die autoritäre Person erfährt. Zwischen autoritär sein und Autorität besitzen besteht ein großer Unterschied.
Das Kind befolgt die Regeln autoritärer Eltern, weil es Angst vor den Konsequenzen hat. Doch in Gegenwart einer Person, die Autorität besitzt, versteht es die aufgestellten Regeln, und darin besteht der große Unterschied. Ein Kind, das einen autoritären Erziehungsstil erlebt, hat Angst, und das ist keine gute Basis. Ein antiautoritärer Erziehungsstil schadet dem Kind ebenso, weil es dadurch seine Anhaltspunkte verliert. Es lernt nicht und weiß nicht, was gut und was schlecht ist, und ein solches Chaos erschwert seine Entwicklung zu einem Menschen, der sich in seiner Haut wohlfühlt. Wie soll das Kind sein Leben bewältigen können, wenn es nicht weiß, was gut und was schlecht ist?
Wie können Eltern ihre Botschaft vermitteln?
Die Vermittlung einer Botschaft ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Kind reagieren kann. Und diese Botschaft muss vor allem eindeutig sein. Die Botschaft muss vom Kind verstanden werden, und sie muss außerdem die Gefühle der vermittelnden Person enthalten, d. h. es ist sehr wichtig, dass das Elternteil ausdrückt, was es möchte. „Ich möchte, dass du dein Zimmer aufräumst“, ist eine eindeutige Botschaft, die ein Kind verstehen kann. Wenn man aber sagt: „Dein Zimmer ist ein einziger Saustall“, kann das Kind nichts damit anfangen.
Was versteht man unter Erziehungsvereinbarungen?
Wenn wir von Erziehungsvereinbarungen sprechen, meinen wir einen Baustein, der die Erziehungsaufgabe erleichtern kann. Häufig bemerken Eltern, dass bestimmte Einzelheiten im Alltagsleben ihrer Familie nicht funktionieren, und dann müssen sie etwas unternehmen. Zum Beispiel, wenn das Kind nie pünktlich zum Mittagessen erscheint. Das ist eine Situation, welche die Familie nicht mehr hinnehmen will. Also setzen sich alle zusammen, um eine Regelung zu finden. Auch das Kind wird in dieses Gespräch einbezogen, denn es wird gefragt: „Worin bestünde deine Lösung?“ Anschließend führt man beide Aspekte zusammen und versucht, gemeinsam eine Lösung zu finden und umzusetzen. Sehr wichtig ist bei alldem, dass das Kind sehr genau weiß, mit welcher Konsequenz es zu rechnen hat, wenn es trotzdem nicht pünktlich ist. Auf diese Weise kann man schwer erträgliche Situationen im Alltagsleben einer Familie in den Griff bekommen.
Wie lauten die Empfehlungen oder goldenen Regeln für eine altersgemäße und effiziente Kommunikation mit dem Kind?
Die entscheidende Voraussetzung für eine gelungene Kommunikation mit dem Kind besteht darin, dass das Kind weiß, dass das Gesagte mir viel bedeutet. Außerdem ist es für das Kind sehr wichtig, dass es die Gefühle seiner Eltern wahrnimmt, wenn sie mit ihm reden. Und um jeden Preis sollte man es vermeiden, die Person des Kindes anstelle seines Fehlverhaltens zu kritisieren. Niemals darf man sagen: „Du bist eine echte Plage.“ Statt dessen sagt man: „Du verhältst dich falsch.“ Dann kritisiert man nicht seine Person, sondern sein Verhalten. Ebenso wichtig ist es, die eigenen Empfindungen zu kommunizieren.
Hat der Platz des Kindes in der Familie (Älteste(r), Jüngste(r), Einzelkind usw.) Auswirkungen auf die „Entwicklung“ seines Charakters?
Man kann nicht sagen, dass Einzelkinder automatisch zu Egoisten werden, doch es gibt Anhaltspunkte im Verhalten eines Kindes, die seinen Platz in der Geschwisterfolge vermuten lassen. Beispielsweise ist das erste Kind der Familie das einzige, das die Erfahrung gemacht hat, Einzelkind zu sein. Alle anderen werden diese Erfahrung niemals machen. Und die Erfahrungen, die Kinder machen, prägen selbstverständlich ihren Charakter.
Wie können Eltern die Kommunikation unter den Geschwistern fördern?
Die Förderung der Kommunikation innerhalb der Familie ist ein Baustein von vielen in der Erziehung. Es handelt sich dabei um eine Verhaltensweise, die man erlernt, wenn man ein gutes Vorbild hat, wenn die Kommunikation in der Familie, in der man aufwächst, einen bedeutenden Wert darstellt und wenn dieser Wert gelebt und vermittelt wird. Kinder übernehmen ein solches Verhalten. Es kommt auf das richtige Vorbild an. Eltern, die nicht miteinander reden, können nicht erwarten, dass ihre Kinder zu großen Rednern werden.
Welche Alarmsignale zeigen, dass der praktizierte Erziehungsstil für ein oder mehrere Kinder nicht geeignet ist?
Das entscheidende Kriterium für Eltern besteht darin, zu erkennen, ob sie es mit glücklichen Kindern zu tun haben. Man spürt das sofort, denn schließlich geht es um das eigene Kind. Wenn ein Kind seine Gefühle nicht ausdrücken kann oder die Eltern den Eindruck haben, dass es sich in seiner Haut nicht wohlfühlt, müssen unverzüglich entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.
Welche Rolle spielen Verwandte, wie Onkel und Tanten, heutzutage in der Erziehung?
In vielen Familien gehen beide Eltern arbeiten. Bestimmte Maßnahmen werden ergriffen, um die Betreuung der Kinder von morgens bis abends zu gewährleisten. Und häufig bricht das ganze System zusammen, weil das Kind krank ist oder aus irgendeinem anderen Grund. Deshalb ist es sehr wichtig, auch diese erweiterte Familie einzubeziehen, um solche unvorhergesehenen Zwischenfälle bewältigen zu können. Andererseits können Onkel und Tanten, ähnlich wie Großeltern, viel über die Vergangenheit erzählen.
Meiner Ansicht nach ist das sehr wichtig und auch sehr interessant für die Kinder. Es handelt sich gewissermaßen um die Weitergabe der Familientradition.
Wie hat sich Ihrer Ansicht nach die Beziehung zu dieser erweiterten Familie im Vergleich zu früheren Generationen verändert?
Durch unsere Lebensweise, durch die Entfernungen und durch viele Aspekte unseres Lebens. Die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Familienmitgliedern ist heute viel schwächer als früher, denn sehr häufig sehen die Kinder Onkel und Tante, wenn überhaupt, vielleicht zu Weihnachten oder anlässlich anderer Feste. Doch ein regelmäßiger Austausch findet nicht mehr statt, weil die Entfernungen zu groß sind, und das gilt vor allem hier in Luxemburg. Sehr oft wohnen die Verwandten an einem weit entfernten Ort, sodass die Beziehungen immer schwächer werden, was wirklich sehr schade ist.