Um dieses besondere Verhältnis besser zu durchschauen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die frühzeitig aufgebaute Beziehung zu den Geschwistern, abgesehen von der Beziehung zu den Eltern, uns gewöhnlich am meisten prägt. In der Tat kann sie sich entscheidend auf die Art der Selbstwahrnehmung und der Kontaktaufnahme zu anderen auswirken. Häufig handelt es sich dabei auch um die Beziehung, die sich über den längsten Zeitraum erstreckt.

Dass das Verhältnis zu unseren Geschwistern selten eindeutig ist, liegt daran, dass es meistens unter nicht besonders harmonischen Bedingungen seinen Anfang nimmt. Bei der Ankunft eines zweiten Kindes in der Familie hat der / die Erstgeborene altersunabhängig das Gefühl, seinen / ihren Platz und die Aufmerksamkeit der Eltern zu verlieren.

„Ich war gespalten zwischen der Freude, endlich einen Bruder zu bekommen, und der Angst, meinen Platz bei meinen Eltern zu verlieren, und ich erinnere mich, dass ich sehr eifersüchtig war.“ So beschreiben Erstgeborene häufig ihre Gefühle angesichts dieser Kindheitsphase.

Aus diesem Grund sind Konflikte unter Geschwistern unvermeidlich. Kinder streiten sich um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und zugleich lernen sie, sich zu sozialisieren. Bei Ankunft eines Bruders oder einer Schwester müssen Kinder miteinander teilen und sich darum bemühen, miteinander auszukommen und sich zu verstehen.

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Folglich bietet diese Geschwisterbeziehung ein Übungsfeld für spätere Beziehungen: Übung in Konfliktbewältigung, Problemlösung, Kompromissfindung.
Wenn die Eltern die ersten Strategien zur Sozialisierung vermitteln, ermöglichen uns die Geschwister deren tägliche Umsetzung. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern ihre Kinder ermutigen, Zeit miteinander zu verbringen, sich zu achten, aufeinander einzugehen und Kompetenzen zu entwickeln, um Konflikte meistern zu können.
Häufig tritt die Rivalität zwischen Geschwistern erst auf, wenn das Jüngere sechs Monate alt ist, denn ab diesem Zeitpunkt ist das Kind während eines Großteils des Tages wach, sodass es als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen wird.

Diese Rivalitäten sind normal und wichtig, wie wir bereits erwähnt haben. Eltern sollten versuchen, sich nicht in jeden Streit ihrer Kinder einzumischen. Es geht nicht darum, zu ihrem Schiedsrichter zu werden, und ständig in ihr Spiel einzugreifen.

Dennoch müssen Eltern dafür sorgen, dass keines der Kinder dauernd von seinem Bruder oder seiner Schwester gehänselt, verunglimpft oder körperlich angegriffen wird.

Doch gleichzeitig ist es wichtig, dass Eltern ihren Kindern dieses Übungsfeld überlassen, damit sie in dem geschützten Rahmen, den ihre eigene Familie darstellt, Konflikterfahrungen sammeln können. Nirgendwo gibt es einen zweiten Ort, der sich so gut für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und Konfliktfähigkeit eignet wie die Familie.