Psychischer Schock und Schmerz
Der Tod eines Kindes ist der Richtung des Lebens entgegengesetzt. Es handelt sich um einen sehr schmerzhaften Verlust, der die Betroffenen sowohl psychisch als auch körperlich zutiefst verletzt. Selbst wenn der Tod des Kindes nicht unerwartet eingetreten ist, handelt es sich um ein schockierendes, unfassbares Ereignis, das unwirklich erscheint. „Unmöglich, dass uns das widerfahren ist“, sagen die meisten Patienten. Doch nach und nach begreifen die betroffenen Eltern, was geschehen ist, woraufhin eine ganze Welt zusammenbricht.
Die Eltern fühlen sich völlig hilflos, so als wäre ein Teil ihrer selbst amputiert worden. Der Schmerz ist seelisch und körperlich zugleich. Er fühlt sich an wie ein Dolchstoß, der jeden Morgen daran erinnert, dass das Kind wirklich tot ist. Die Eltern fragen sich dann, wie sie mit diesem innerlichen Schmerz den Tag überstehen sollen. Viele Menschen haben nach dem Verlust eines Kindes das Gefühl, nie darüber hinwegzukommen. Sie wünschen sich in diesem Augenblick, dass der Schmerz verschwindet, doch der Verlust verwandelt sie für immer, und sie werden ihn nie vergessen. Dennoch kann es ihnen gelingen, darüber hinwegzukommen. Die Eltern verändern sich, entwickeln sich weiter. Selbst wenn eine Narbe zurückbleibt, besteht die Möglichkeit, sich dem Leben neu zuzuwenden, die Freude daran wiederzugewinnen, sich auf neue Vorhaben einzulassen und eventuell eine neue Schwangerschaft zu planen. Die Unterstützung und Begleitung durch Freunde und Familienmitglieder stellen die wichtigste Voraussetzung dafür dar.
Eine Gefühlslawine: Verzweiflung, Wut, Schuldgefühle und Scham
Alle trauernden Eltern sind sich darin einig, dass sie den Tod ihres Kindes wie ein „Entreißen“ erlebt haben. Sie fühlen sich, als wäre ein Teil ihres eigenen Körpers amputiert worden. Nicht nur das Kind ist verschwunden, sondern auch alle Vorstellungen, die seine Eltern mit ihm verbunden haben. Eine Leere bleibt zurück. Sie müssen sich nicht nur von ihrem Kind verabschieden, sondern auch von bestimmten Plänen, Phantasien und Träumen, sowie von der Elternschaft für dieses Kind.
Da der Tod eines Kindes der Richtung des Lebens entgegengesetzt ist, schleicht sich ein heftiges Gefühl von Ungerechtigkeit ein: „Warum wir? Warum er/sie?“. Es ist, als würde die Welt stehen bleiben, und man empfindet Wut gegen die anderen, deren Leben weitergeht. Und sehr häufig mischt sich ein Anflug von Schuldgefühlen darunter, weil man nicht imstande war, dem eigenen Kind zu helfen, es zu retten oder zu beschützen. In diesem Sinne fragen sich viele Eltern unaufhörlich, wie sie hätten anders handeln können. Sie halten sich für „schlechte Eltern“, denen es nicht gelungen ist, ihrem Kind zu helfen. Bei einem Schwangerschaftsabbruch sind diese Schuldgefühle umso stärker: Es ist schwer zu ertragen, dem eigenen Kind durch den Tod zu helfen, anstatt durch das Leben und die Person zu sein, die diese Entscheidung treffen muss. Hinzu kommt ein Schamgefühl gegenüber anderen. Wie gelingt es Eltern nach dem Tod ihres Kindes, sich selbst zu akzeptieren? Wie können sie den Blick der anderen aushalten? Wie können sie ins Leben zurückfinden?
Die Trauer um ein Kind ist unabhängig von seinem Alter, sowie von den vergangenen Jahren des Todes. Dabei geht es nicht darum, das eigene Kind zu vergessen. Die Angst, es zu vergessen, kann sehr stark sein, vor allem, wenn das Umfeld allmählich immer seltener von ihm spricht. Der Tod eines Kindes ist ein echtes gesellschaftliches Tabu. Die Gesellschaft drängt die Betroffenen, „rasch einen Schlussstrich zu ziehen“, „bald das Thema zu wechseln“, obwohl es sehr heilsam ist, immer wieder über das Kind oder über das Ereignis zu reden.
Im Alltag wird die Erinnerung immer wieder schmerzhaft wachgerufen. Eine Freundin, die entbindet, Kinder auf der Straße, Familienfeste, der Jahrestag… Es ist normal, in solchen Augenblicken eine große Traurigkeit und Verzweiflung zu empfinden. Nach einer Weile verschwindet dieses Gefühl allmählich, bis es bei der nächsten schmerzhaften Erinnerung wieder hochkommt. Trauer ist kein gleichmäßig dahinfließender Prozess. Zwischen friedlichen Ruhephasen treten immer wieder Stürme auf.
Sehr behutsam und in ihrem individuellen Rhythmus werden sich die Eltern wieder ihrem Leben zuwenden, das heißt ihre privaten und beruflichen Aktivitäten wiederaufnehmen, wieder Freunde und Verwandte treffen und neue Pläne schmieden. Das ist jedoch nur möglich, wenn es ihnen gelungen ist, eine angemessene Beziehung zu ihrem verstorbenen Kind aufzubauen. Andernfalls besteht das Risiko, dass sie das Gefühl haben, es zu verraten, wenn sie sich wieder der Wirklichkeit und dem Leben zuwenden. Dabei handelt es sich um die Akzeptanzphase, die einen wesentlichen Schritt innerhalb des Trauerprozesses darstellt.
Ausdruck verleihen
Trauernde Eltern müssen lernen, dem Ereignis Ausdruck zu verleihen, entweder durch die Sprache oder auf kreativere Weise, wie z. B. durch Malen, Schreiben, Singen, Einsatz von Symbolen. Es ist nicht krankhaft, immer wieder über dieselben Gefühle zu sprechen, wie z. B. Wut, Frust, Traurigkeit, Verzweiflung. Das bedeutet nicht, den Finger in die Wunde zu legen, sondern vielmehr, sich allmählich von einer ungeheuren, emotionalen Last zu befreien. Wenn diese Last nicht abgebaut wird, übt sie weiterhin Macht aus und kann den Trauerprozess behindern.
Ein unterstützendes Netzwerk aufbauen
Wichtig für die Betroffenen sind Personen, die zuhören können, wie z. B. Freunde, Familienmitglieder oder Therapeuten. Sie sollten eine gute Auswahl treffen und nicht auf sich gestellt bleiben. Es ist nicht immer einfach, Angehörige und Freunde zu finden, die zuhören können, denn der Tod eines Kindes löst große Angst aus. Freundschaften können sogar daran zerbrechen, da nicht jede(r) über den Tod sprechen kann, vor allem, wenn es sich um den Tod eines Kindes handelt. Deshalb ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu suchen. Darüber hinaus ist es sehr schwierig, die Trauer um das eigene Kind bei Bekannten anzusprechen oder zu erklären. Mit Unbekannten, die dasselbe erlebt haben, lässt sich in der Regel leichter darüber reden. Deshalb sind Gesprächsgruppen wichtig. Betroffene Eltern stimmen ausnahmslos der folgenden Aussage zu: „Nur wer es erlebt hat, kann es verstehen.“
Resilienz entwickeln und eine innere Verbundenheit mit dem Kind herstellen
„Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall dort, wo ich bin.“ Dieser Satz von Victor Hugo kann während der Trauerphase sehr bedeutungsvoll sein, denn es ist wichtig, mit dem verstorbenen Kind verbunden zu bleiben. Für manche Eltern konkretisiert sich das in einem inneren Bild, in Erinnerungen, Worten oder auch symbolischen Gegenständen oder Ritualen. Anfangs streben die Eltern hauptsächlich danach, eine äußere Verbindung herzustellen, z. B. indem sie sehr häufig Fotos anschauen, das Grab des Kindes besuchen, ein Kuscheltier umarmen, ein Schmuckstück oder einen symbolischen Gegenstand tragen. Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, dass diese Suche nach einer Verbindung ein Grundbedürfnis der Eltern darstellt, obwohl sie schmerzt. Im Lauf der Zeit kann eine innere Verbundenheit entstehen, beispielsweise über die Gedanken, doch der Weg dorthin ist lang und schmerzhaft. Die Betroffenen identifizieren sich mit der Rolle der Eltern eines verstorbenen Kindes, das sie weiterhin in sich tragen und um sich haben. Es ist nicht krankhaft, mehrmals täglich an das verstorbene Kind zu denken. Mit der Zeit werden diese Gedanken unbeschwerter. Auf diese Weise hinterlässt das Kind seine Spuren in der Welt und bleibt in den Gedanken und Gesprächen gegenwärtig, aber auch unter den Geschwistern.
Seine Eltern vergessen es niemals. Vielmehr integrieren sie den Verlust in ihr Leben. Das erzeugt zugleich eine große Verletzlichkeit und eine unglaubliche Stärke, die sie für immer in sich tragen.